26. September 1938
Eisenbahnkatastrophe im Bahnhof Borken (Westf.) – Von Ingo Bergsdorf
Eisenbahnkatastrophe im Bahnhof Borken (Westf.) – Von Ingo Bergsdorf
Ein furchtbares Unglück
Am frühen Abend des 26. September 1938 ereignete sich im Bahnhof Borken (Westf.) nahe dem am Dülmener Weg gelegenen Stellwerk Ot (später Bo und dann Bf) ein schweres Eisenbahnunglück, das die Borkener Bevölkerung mit einem lauten Knall und einem gewaltigen Krachen aufgeschreckt hat. Eine Rangierlok war mit einem einfahrenden Personenzug zusammengestoßen.
Foto: Stadtarchiv Borken.
An der Unfallstelle bot sich ein Bild des Grauens. Die Lok des Personenzuges war aus den Schienen gesprungen. Der erste Personenwagen wurde auf die Lok gedrückt, wobei zwei Achsen abrissen. Auf diesen türmte sich der zweite Personenwagen. Beide Wagen waren fest ineinander verkeilt und hatten sich von den folgenden Wagen abgetrennt. Der Oberbau war stark in Mitleidenschaft gezogen, die Gleise zum Teil verworfen.
Foto: Stadtarchiv Borken.
Foto: Stadtarchiv Borken.
Noch in den Abendstunden wurden 15 Todesopfer geborgen, deren Zahl sich aber bis zum nächsten Tag auf 16 Personen erhöhte. Der Lokführer der Rangierlok starb zwei Tage später im Krankenhaus. Außerdem gab es mehrere Schwerverletzte. Bei der Anzahl der Leichtverletzten ging der Bahnhofsvorsteher im Oktober 1938 von 26 Personen aus.
Hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich tragische Schicksale. So hinterließ die Vredener Familie Wiggers ein zweijähriges Mädchen. 14 Kinder des Ehepaares Ebbing aus Ramsdorf wurden durch das Zugunglück zu Vollwaisen. Sechs Kinder von Johann König verloren ihren Vater. Die Stadt Borken trauerte um den Stadtrentmeister Heinrich Kleyhege und den Stadtsekretär Bernhard Maßmann, die von einer Dienstreise zurückkamen, und um weitere Bürgerinnen und Bürger. Im Missionskonvikt der Oblaten der Maria Immaculata (OMI) an der Burloer Straße wartete man an diesem Abend vergeblich auf die Heimkehr von Pater Johannes Kunze. Er war dort als Lehrer tätig und hielt sonntags den Gottesdienst in der Kapelle des Gutes Pröbsting.
Rettungsmaßnahmen
Schnell eilten Hilfskräfte zur Unfallstelle. Es waren Eisenbahner des Bahnhofs und unverletzte oder leicht verletzte Reisende aus dem Zug. Bald kam weitere Hilfe von der Feuerwehr, dem Roten Kreuz, den Ärzten und Krankenschwestern sowie von freiwilligen Helfern verschiedener Gruppierungen der Partei.
Da die Dunkelheit eingebrochen war, mussten die Rettungsarbeiten bei Lampen- und Laternenlicht durchgeführt werden. Besonders schwierig und belastend war die Bergung der Reisenden des ersten Wagens. Da dieser völlig zerstört war, wurden die Menschen aus dem zusammengedrückten vorderen Abteil unter großen Mühen befreit. Besonders schwierig war es, an die unter dem Wagen liegenden Reisenden heranzukommen. Es wurden Winden angesetzt, um das Untergestell zu heben. So konnten sieben Menschen aus dem Geröll des Gleisbetts und dem Gestänge und Räderwerk geborgen werden. Von ihnen waren fünf bereits tot, die beiden anderen starben später im Krankenhaus.
Einige Reisende hatten Glück im Unglück. Sie standen an der Tür oder holten gerade das Gepäck aus der Ablage. Als es zum Zusammenstoß kam, wurden sie aus dem Abteil geschleudert und überlebten mehr oder weniger verletzt.
Die Erstversorgung der Schwerverletzten und der leichter Verletzten erfolgte an verschiedenen Stellen im Bahnhof. Die Schwerverletzten fanden Aufnahme im St.-Marien-Hospital. Die weniger schwer verletzten Personen wurden mit Pkws zur weiteren ärztlichen Behandlung oder nach Hause gefahren. Unterstützung bekamen die Hilfskräfte von einem Arztwagen aus Wesel. Gleichzeitig erreichten zwei Gerätewagen die Unfallstelle.
Der Präsident der Reichsbahndirektion Essen und Vertreter der Staatsanwaltschaft Münster kamen noch am Abend zur Unfallstelle. Am Nachmittag des folgenden Tages informierte sich auch der Regierungspräsident aus Münster, begleitet von Dr. Peter Cremerius, dem Landrat des Kreises Borken, über das Unfallgeschehen.
Die Aufräumarbeiten an der Unglücksstelle begannen schon in der Nacht und wurden auch am folgenden Tag von Hilfsmannschaften aus Wanne-Eickel durchgeführt. Bereits am nächsten Tag um 18 Uhr konnten die Gleise wieder für den Zugverkehr freigegeben werden.
Abtransport der zerstörten Waggons.
(Foto: Borkener Zeitung, 28.9.1938)
Unfallhergang
Die im Bahnhof mit Rangierarbeiten beauftragte Güterzuglok hatte einen Postwagen hinten an den Personenzug gestellt, der nach Ankunft des Gegenzuges nach Wanne-Eickel fahren sollte. Da der Zug von Wanne-Eickel sich verspätet hatte, informierte der Fahrdienstleiter den Lokführer und den begleitenden Rangierer, dass sich die beiden Personenzüge in Marbeck-Heiden begegnen sollen. Nach der Abfahrt des Personenzuges fuhr die Rangierlok zur Bahnhofsmitte, um Wasser zu nehmen.
Der die Lok begleitende Rangierer erhielt dann vom Rangieraufseher den Auftrag, einen Gepäckwagen zur Güterabfertigung zu bringen. Dieses teilte er dem Lokführer mit. Nach Angabe des Rangierers murrte der Lokführer, da nach seiner Meinung die Rangierzeit um war. Er sei dann aber ohne ein Signal des Rangierers weitergefahren. Am Ende des Gleises gab es kein Signal für Rangierfahrten, an dem die Lok hätte halten müssen. Allerdings habe der auf dem Stellwerk Dienst habende Weichenwärter eine Laterne mit dem roten Licht zum Bahnhof in das Fenster gestellt, um auf den einfahrenden Personenzug aufmerksam zu machen.
Offensichtlich befuhr die Rangierlok ohne zu halten in das Einfahrgleis des Personenzugs. Einen Flankenschutz, durch den das Unglück nicht geschehen wäre, gab es zu dieser Zeit noch nicht. Allerdings soll das Material für eine Schutzweiche schon ein knappes Jahr an der Unfallstelle gelegen haben, wie einer unmittelbar nach dem Unfall angefertigten Skizze zu entnehmen ist. Diese Schutzweiche sowie ein Gleisstück mit Prellbock sind später eingebaut worden und dienten bis zum Rückbau der Gleisanlagen in den 1990er Jahren als Flankenschutz für die ein- und ausfahrenden Züge.
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
Noch am Abend des Unfalls nahm die Staatsanwaltschaft in Münster die Ermittlungen zum Unfallhergang und zur Unfallschuld auf. Die Untersuchungen zogen sich über den gesamten nächsten Tag hin. Der zunächst ins Borkener Krankenhaus gebrachte Rangierer wurde am 2. Oktober 1938 in das Gefängnislazarett Bochum gebracht. Später wurde auch der Rangieraufseher inhaftiert, aber vor Weihnachten 1938 wieder freigelassen.
Der Rangierlokführer verstarb aufgrund seiner schweren Verletzungen im Borkener Krankenhaus. Er konnte nicht mehr zum Unfallhergang vernommen werden.
Der Heizer überlebte schwer verletzt. Ein Protokoll einer wahrscheinlich gemachten Aussage konnte nicht gefunden werden. Vermutlich hat der Heizer die Aussage des Rangierers bestätigt, was Einfluss auf die Schuldfeststellung beim Landgericht gehabt haben könnte.
Zur Klärung der Schuldfrage wurde ein Ortstermin in Borken durch die Staatsanwaltschaft Münster anberaumt. Neben der Besichtigung der Unfallstelle wurden noch Zeugen vernommen.
Ende März 1939 waren die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Münster abgeschlossen. Die Pressestelle des Landgerichts Münster gab in einer Pressemitteilung bekannt, dass der Lokführer der Rangierlokomotive allein den Unfall verschuldet hatte. Das Strafverfahren gegen den Rangierer wurde eingestellt.
Trauerfeierlichkeiten
Der 29. September 1938 stand ganz im Zeichen der Trauer um die 17 Toten der Eisenbahnkatastrophe. In der Stadt Borken und im Landkreis wehten die Fahnen auf Halbmast. Die 17 Särge waren im Laufe des Vormittags in der Aula des Borkener Gymnasiums an der Bocholter Straße aufgebahrt worden.
Am selben Morgen fand in der Propsteikirche St. Remigius ein Trauergottesdienst statt. Die Predigt in der vollbesetzten Kirche hielt Domkapitular Gieben als Vertreter des Bischofs zu Münster.
Nachmittags fand dann die offizielle Trauerfeier in der Aula des Gymnasiums statt. Zahlreiche Trauergäste waren zu der Feier erschienen. Neben den Angehörigen der Unfallopfer, die in einem Block saßen, hatten die offiziellen Vertreter Platz genommen. Hierzu gehörten der Vertreter der Partei, der Reichsbahnpräsident, der Vizepräsident des Oberpräsidiums Westfalen, der Vizepräsident der Bezirksregierung und der Landrat des Kreises Borken sowie die Vertreter aller städtischen Behörden und benachbarter Städte und Gemeinden. In der bewegenden Trauerfeier gab es neben den Trauerreden auch Musikbeiträge vom Chor des Gymnasiums und dem Peter-Quartett aus Essen.
Beerdigung der Opfer
Nach Beendigung der Feierstunde wurden die Särge in die Heimatorte der Opfer gebracht, wo unter großer Anteilnahme der Bevölkerung die Beisetzung erfolgte.
In Vreden wurden die Särge der Familie Wiggers in einem Trauerzug vom Krankenhaus zum Friedhof geleitet. In Ramsdorf ist aus Mitgefühl mit den 14 Kindern des Ehepaars Ebbing das wenige Tage später geplante Kriegerfest abgesagt worden.
In Wanne-Eickel sind die drei getöteten Eisenbahner unter reger Teilnahme offizieller Vertreter und der Bevölkerung beigesetzt worden. Die Särge der Unfallopfer wurden durch Mitglieder des Eisenbahnervereins von den Wohnungen abgeholt und gemeinsam zur Gruft gefahren. Trauerweisen, gespielt von der Eisenbahnerkapelle und gesungen vom Männergesangverein „Lokomotive“, umrahmten die ergreifende Feier.
Das achtzehnte Unfallopfer
Am Unfallabend ging man von leichteren Verletzungen des Bürgermeisters Dr. Clemens Nottarp aus, so dass er seine Wohnung aufsuchen konnte. Am nächsten Morgen musste er aber ins Krankenhaus gebracht werden, da sich die Verletzungen als schwerer erwiesen. Es wurden Rippenbrüche, Brustquetschungen, Kopf- und Wadenverletzungen festgestellt, die aber nichts Ernsteres befürchten ließen. Der Zustand verschlechterte sich jedoch in den nächsten Tagen wegen einer zunehmenden Herzschwäche, und er verstarb am 04. Oktober 1938 im St. Marien-Hospital in Borken. In dem vom Standesbeamten vorgenommenen Eintrag im Personenstandsregister wurde als Todesursache vermerkt: „/Schwere innere und äußere Verletzungen aus Anlaß eines Eisenbahnunfalls (Zugzusammenstoß)/“.
Nachruf des Gymnasiums in der Borkener Zeitung.
Die Beerdigung war am 08. Oktober 1938. Von 7.30 bis 8.30 Uhr stellte die Freiwillige Feuerwehr Borken die Totenwache am Sarg des Bürgermeisters, der in der Aula des Gymnasiums aufgebahrt war.
Anschließend wurde der Sarg – eskortiert von fackeltragenden Feuerwehrleuten – unter sehr großer Teilnahme der Bevölkerung, von Vertretern des öffentlichen Lebens und der Reichsbahn zum Marktplatz geleitet. Vor dem mit Tannengrün, Kränzen und Fahnen geschmückten Rathaus, das in der Bevölkerung Bürgermeisteramt genannt wurde, fand dann eine würdevolle Trauerfeier statt. Musikalisch umrahmt wurde sie von einem Blasorchester und dem Schülerchor des Gymnasiums.
Die Grabrede hielt der Landrat des Kreises Borken, der die Verdienste des Verstorbenen für die Stadt würdigte. Weitere Redner waren der städtische Beigeordnete, der Präsident der Reichsbahndirektion Essen und Parteivertreter. Das Foto vor der Südseite der Kirche St. Remigius zeigt die Hinterbliebenen und Vertreter des öffentlichen Lebens.
Nach der kirchlichen Aussegnung begab sich der Trauerzug unter der Begleitung des Spielmannzugs und des Blasorchesters vorbei an zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern auf den Weg zum Friedhof, wo der Verstorbene neben vier anderen Opfern des Zugunglücks seine letzte Ruhe fand.
Nach der Beisetzung gab es einen Trauergottesdienst in der Propsteikirche St. Remigius.
Foto: Stadtarchiv Borken.
Einladung des Schulchores nach Köln
Zum Dank für ihre Mitwirkung bei der Trauerfeier für die Toten der Eisenbahnkatastrophe wurde der Schulchor von der Reichsbahndirektion Essen zu einer Fahrt nach Köln eingeladen. Die Bahnreise wurde vereinbart für den 10. November 1938. Es war der Tag nach der Pogromnacht.
Die Bahn hatte für diese Fahrt zwei Sonderwagen (Triebwagen) zur Verfügung gestellt. An der Fahrt nahmen 92 Schüler mit ihrem Dirigenten teil. Begleitet wurden sie vom Schulleiter und einigen Mitgliedern des Lehrerkollegiums. Von der Reichsbahn fuhren ein Dezernent der Direktion Essen und der Leiter der Werbeabteilung mit.
In Köln standen der Besuch des Domes und eines Museums auf dem Programm. Anschließend gab es ein gemeinsames Mittagessen. Nach einem Besuch des Kölner Zoos traf man sich zum Kaffeetrinken in einer Gaststätte am Rhein. Bei der Gelegenheit überbrachte der Dezernent den Gruß und Dank des Präsidenten der Reichsbahndirektion. Von den unübersehbaren Folgen der nächtlichen Ereignisse in der Kölner Innenstadt stand im kurzen Zeitungsbericht über die Fahrt natürlich nichts …
Weitere Unfallfolgen
Neben dem geschilderten menschlichen Leid hatte der Unfall auch enorme materielle Folgen. Außer den hohen Kosten für die Fahrzeuge, die Rettungsmaßnahmen und die Wiederherstellung der Bahnanlagen sah sich die Reichsbahn den Forderungen der Hinterbliebenen und Verletzten gegenüber. Die Ansprüche umfassten u.a. Bestattungskosten, Rentenleistungen für die Hinterbliebenen, Arzt- und Krankenhauskosten, Verdienstausfall sowie Rentenzahlungen an die Verletzten und die Erstattung von Sachschäden.
Aber nicht nur Sachschäden mussten erstattet werden. So berichtet der Sohn eines Verletzten, dass sein Vater die Tätigkeit als Ofenmaurer nicht mehr ausführen konnte, da er unfallbedingt die Höhentauglichkeit verloren hatte. Er erhielt später eine Anstellung bei der Bahn.
Die Haftung der Reichsbahn galt aber nicht für die städtischen Bediensteten. Da sie auf einer Dienstfahrt verunglückten, galten für sie die deutlich ungünstigeren Regelungen des Deutschen Beamtengesetzes. Es wurden nicht alle Kosten erstattet, auch die Versorgung war wesentlich geringer. Dadurch kam die Frau des Bürgermeisters mit ihren fünf Kindern in wirtschaftliche Schwierigkeiten. In einem längeren Schriftwechsel mit dem Reichsminister des Inneren beantragte sie weitere Hilfen. Schließlich erhielt sie ein eine einmalige finanzielle Unterstützung aus den „Sondermitteln des Führers“. Auch die Reichsbahn übernahm einen Teil der Bestattungskosten.
Die materiellen Probleme konnten mehr oder weniger schnell geregelt werden. Der Verlust nahestehender Menschen und die Nachwirkungen von Verletzungen hatten in den Familien der Unfallopfer und bei den Verletzten jedoch weitreichende und lang andauernde Folgen. So musste die zweijährige Christa-Maria Wiggers aus Vreden ohne ihre Eltern aufwachsen. Der Sohn des Weichenwärters Johann König berichtet, dass es seine Mutter sehr schwer hatte, mit einer kleinen Rente die sechs Kinder allein groß zu ziehen.
Die 14 Kinder des Ehepaars Ebbing warteten vergeblich auf die Rückkehr der Eltern. Nach der Beerdigung wurde ein Kind der Verunglückten von einer entfernten Verwandten, die keine Kinder hatte, aus der Familie herausgenommen. Es gab kaum noch einen Kontakt zur Familie in Ramsdorf. Ein Nachbar wurde amtlich bestellter Vormund für die unmündigen Kinder. Die Versorgung der Landwirtschaft, die Führung des Haushalts und die Wartung und Erziehung der minderjährigen Kinder übernahmen die volljährigen Schwestern.
Schlusswort
Acht Jahrzehnte sind seit dem schrecklichen Unglück vergangen. Nur noch wenige Zeitzeugen können sich an dieses Ereignis erinnern. Da sie zu dem Zeitpunkt in den ersten Schulklassen waren, haben sie keine genaueren Kenntnisse. In der Öffentlichkeit ist die Borkener Eisenbahnkatastrophe kaum bekannt. In der Zwischenzeit hat sich auch das Bahnhofsgebiet deutlich verändert, so dass der genaue Unfallort nicht mehr zu erkennen ist.
Einen Unfall dieser Größenordnung gab es in Borken nur einmal. Er ist als markanter Punkt in die Borkener Eisenbahngeschichte eingegangen.
(C) Ingo Bergsdorf 2018/2021