Ein alter Nachbarschaftsbrauch in Borken
Tremse ist der Name eines alten (Nachbarschafts-)Brauches, der sich nur in Borken erhalten hat. Mit dem Wort sind zugleich auch die bunten Gebilde gemeint, die im Mai über den Straßen hängen. Ihre glockenförmige Gestalt ergibt sich aus einem Drahtgestell, das mit Girlanden, Fächern und Fähnchen aus Papier sowie langen Eierketten geschmückt ist. In seinem Inneren hängt eine aus Holz geschnitzte weiße Taube, die Duwe.
Noch während der ersten Nachkriegsjahre war die zum Brauch gehörende Tremsefeier am Nachmittag des 1. Mai ein besonderes Ereignis im Jahreslauf. Ihre Organisation lag fast ausschließlich in den Händen der ältesten schulpflichtigen Mädchen einer Nachbarschaft, den so genannten Basen, die damit ihre Fähigkeiten im Umgang mit kleinen Kindern unter Beweis stellen konnten.
Das zur Finanzierung der Feier benötigte Geld erbrachte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Straßensammlung, für die alle Kinder einer Nachbarschaft bereits im April unterwegs waren. Sie zogen mit Sammelbüchsen von Haus zu Haus oder baten Passanten um einen Penning för de Tremse. Gerade in den 1930er Jahren, so erinnern sich Zeitzeugen, war diese Sammlung straff organisiert. Die Büchsen waren sogar verplombt; bei der Ausgabe wurden die Namen der Sammler und ihre Zugehörigkeit zu einer Nachbarschaft notiert, ebenso das Sammelergebnis bei der Rückgabe. Von dem Erlös stand einer Nachbarschaft so viel Geld zu, wie deren Kinder gesammelt hatten.
Das Geld reichte aus, um (Blech-)Kuchen und Kakao zu kaufen. Damit bewirteten die Basen am Nachmittag des 1. Mai die jüngeren Kinder der Nachbarschaft, die an einer langen Tischreihe Platz genommen hatten. Zu den weiteren Aufgaben der Basen zählte die Betreuung der Kinder beim Blumenpflücken vor der Stadt sowie beim Singen und Spielen unter der Tremse.
Die altersentsprechenden Jungen sorgten währenddessen für das Schlagen und Aufstellen eines Maibaumes, der in Borken traditionell eine Kiefer, im Plattdeutschen growwe Dänne genannt, ist. Das abendliche Singen unter der Tremse und um den mit leuchtenden Laternen geschmückten Maibaum zog vor allem die ältere Jugend einer Nachbarschaft an, die in Verbindung mit dem Besuch der Maiandacht Ausgang erhalten hatte. Ludwig Walters erzählt:
Aowens, wann´t anfönk, düster te wiärden, dann steht den Maiboom, mät Fackeln behangen, under de Trämse. Dat junge Volk geht Hand in Hand in ne groten Krink üm den Boom un singt de aolden Leeder, de me süs in´t ganße Jaohr nich hüört. Iärste kümp ümmer: „Guter Freund, ich frage dir“. Magister Kruse heww sik alle Möite gäwwen, dat de Blagen singen söllen: „… ich frage dich“, mehr et heww nix ebatt. Dann kümp: „Jäger wollt´ keine Birnen schmeißen“ un „Droben auf grüner Waldheide, da steht eine schöner Birnbaum, schöner Birnbaum, trägt Laub“. Endliks: „O Bur, wat kost din Höi“. Un wann´t dann hett: „No krigg den Bur ne Schupp!“, dann giww´t Jubel und Trubel. De Aolden, de drüm herümstaoht, lacht un fröit sik mät. Dat Späöll üm den Maiboom is jeden Sundagaowend in de Maimaond, ook hier un daor naoch up ne Wörkeldag.
(aus: Borkens Bruk dör´t ganße Jaohr. In: Ludwig Walters, Et giw mehr een Borken. Herausgegeben vom Heimatverein Borken e. V., Borken 1969, S. 100 ff.)
Eine gesicherte Namensdeutung sowie eine Alters- und Herkunftsbestimmung der Tremse sind bis heute nicht gelungen. Möglicherweise ist sie das Relikt eines heidnischen Frühlings- oder (Mitt-)Sommerbrauchs, der später in der Deutung der Taube als Heiliger Geist christliche Symbolik erhielt und sich im Laufe der Zeit zu einem Heischebrauch für Kinder entwickelte. In der Nachbarschaft Heidener Straße wurde in den 1960er Jahren ein besonderer Einladungsvers aufgezeichnet, der diesen Charakter der Maitremse ausdrückt:
Wi laot ton´n nöchsten Sundag in
de Kinner to Koffie un Koken.
Un well bi us in de Naoberschopp drin,
de sall üm den Maiboom ok loopen.
Drüm gaoh wi van´t ene naot annere End´
un hädden gärn ´ne kleine Spend.
In der oben beschriebenen Form war die Tremse früher weiter verbreitet als heute. Noch ausgangs des 19. Jahrhunderts wird sie auch für Ramsdorf und Dülmen bezeugt. Erstmalig erwähnt wurde eine Tremse 1432 in Bocholt, seinerzeit aber in Verbindung mit dem Bartholomäustag am 24. August. Zu diesem Zeitpunkt dürfte sie aber eher ein Erntebrauch gewesen sein. Bekräftigt wird die Vermutung durch den Brauch des aus dem Sauerland bekannten Tremsetragens, für das man glockenförmige Gebilde mit Kornähren und (blauen) Kornblumen, den so genannten Tremsen, schmückte.
Eine vage, aber nicht belegbare Vermutung ist, dass die Tremse an einen Brunnenkranz erinnert, der anlässlich der früher üblichen Brunnenreinigung den Brunnenrand schmückte und Mittelpunkt eines Nachbarschaftstreffens mit dem Verzehr von Kuchen, aber auch mit Singen und Tanzen war.
Soweit es sich aus der spärlichen volkskundlichen Literatur und Zeitungsberichten sowie mit Hilfe von Berichten älterer BorkenerInnen feststellen lässt, erlebte die Maitremse während der 1920er und 1930er Jahre ihre Blütezeit, nachdem sie während des Ersten Weltkrieges zum Erliegen gekommen, aber nicht in Vergessenheit geraten war, heißt es doch zum Abschluss eines 1920 verfassten Berichtes über den Brauch: „Die Maifeier ist seit dem vorigen Jahr wieder zu neuem Leben erwacht.“
Dass die Maitremse nach dem drohenden Aus in den 1960er Jahren heute noch gefeiert wird, ist der Ausdauer alter und dem Interesse neuer Nachbarschaften zu verdanken. Daneben sind aber auch Schulen, Kindergärten und Verein zu Trägern des Brauches geworden. Allerdings haben sich seine Organisationsform und die inhaltliche Gestaltung im Laufe der Jahre deutlich geändert. So ähnelt die äußere Gestalt der bunten Tremse nur noch z.T. der Darstellung auf einem Gemälde von Julia Schily-Koppers (siehe Bild rechts) oder der Beschreibung in einem 1925 erschienenen Aufsatz:
Was ist die Tremse? Man denke sich die Form einer Glocke. Das Gerüst wird gebildet aus Reifen, die quer laufen und durch Draht oder Bindfaden miteinander verbunden sind, wodurch sie zugleich in mehr oder minder gleichmäßigen Abständen voneinander gehalten werden. Die zahlreichen Drähte, die vom obersten bis zum untersten Reifen durchlaufen, sind überzogen mit Stielchen von weißen Tonpfeifen. Die Reifen tragen eine Verdickung von Holzwolle und sind mit Buntpapier spiralförmig umwickelt. Aneinandergereihte Eierschalen hängen in langen, oft doppelten Schlangenwindungen herum und dienen im Verein mit kettenförmig geklebten Buntpapierschlangen als erhabene, lose hängende Verzierung. Fächerförmig gefaltetes Papier bildet am untersten Reifen den Abschluß …
(aus: Theodor Hülsmann, Die Maifeier unter der Tremse. In: Heimatkalender des Kreises Borken 1925. Herausgegeben vom Kreis Borken, S. 27 ff.)
Auch die eigentliche Tremsenfeier hat sich, bedingt durch ein allgemein verändertes Freizeitverhalten, weitgehend vom Maifeiertag gelöst. Sie wird längst nicht mehr durch eine Straßensammlung finanziert, und auch die Basen haben ihre Funktion eingebüßt. Diese ist auf die Erwachsenen übergegangen, durch deren Teilnahme das frühere Kinderfest nicht selten zu einem kleinen Straßenfest der Nachbarschaft mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen erweitert wird. Es findet meistens an einem Nachmittag vor dem 1. Mai oder zum Monatsbeginn statt, und das Singen und Spielen unter der Tremse beschränken sich in der Regel auf dieses eine Mal.
Zu guter Letzt hat sich auch das im Bericht von Ludwig Walters angesprochene Liedgut geändert. Texte wie Jammer, Jammer, höre zu … oder Guter Freund, ich frage dir … , vor Jahrzehnten selbst von Jugendlichen noch mit Freude gesungen, sind nicht mehr zeitgemäß und werden durch Lieder ersetzt, mit denen Kinder sich heute eher zum Mitsingen und Mittanzen motivieren lassen.
Der Heimatverein Borken e.V. gestaltet alljährlich Ende April auf dem Borkener Marktplatz eine Tremsenfeier, die er als Auftaktveranstaltung für die Maitremse in den Nachbarschaften versteht.
Rudolf Koormann, Heimatverein Borken (2012)
Dieses Bild „Maitremsenfeier in der Vennestraße” malte die aus Borken stammende Malerin Julia Schily-Koppers (1855-1944) im Jahr 1935.
So sehen die Tremsen im Borken von heute aus.
Kleine Sing- und Tanzspiele sorgen für Abwechslung.
Tremsenfeier heutzutage …
… und so hat man 1926 im Festzug zum Stadtjubiläum die Tremse dargestellt:
Zur Maitremse gehörte wie hier in der Vennestraße der Baum.
Informationen
zum Bau einer Maitremse gibt es bei der Geschäftsstelle des Heimatvereins:
Tel. 02861 902490
info@borkener-heimatverein.de