
Junge Frauen, die vor 100 bis 150 Jahren Lehrerin werden und bleiben wollten, mussten sich dem sogenannten „Lehrerinnenzölibat“ unterordnen, der im Deutschen Reich 1880 per Erlass eingeführt wurde. Er untersagte einer ausgebildeten und geprüften Lehrerin die Heirat. „Mann“ befürchtete, die Frauen könnten ihren Verpflichtungen als Ehefrau und Mutter sowie als Pädagogin nicht gleichermaßen gerecht werden. Auf eine Missachtung des Erlasses folgte die Kündigung, ja, die Lehrerin verlor nicht nur ihre Stellung und ihren Beamtenstatus, sondern auch den Anspruch auf ein Ruhegehalt. Der Erlass hatte zur Folge, dass es jahrzehntelang an den Schulen nur unverheiratete Lehrerinnen gab.
Erst 1919 hob die Weimarer Verfassung im Artikel 128 II den „Lehrerinnenzölibat“ auf. Doch schon im Oktober 1923 wurde er aus „arbeitsmarktpolitischen Gründen“ wieder eingeführt. Eine „Personalabbauverordnung“ erlaubte die Entlassung verheirateter Beamtinnen, um in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Stellen für Männer zu sichern. Unverheiratete Lehrerinnen mussten eine „Ledigensteuer“ bezahlen, d.h. einen zehnprozentigen „Lohnsteueraufschlag“. Da sie ohnehin schon weniger verdienten als ihre Kollegen, konnte eine Heirat (auch) aus finanziellen Gründen als erstrebenswert erscheinen. „Lehrerinnenzölibat“ und „Personalabbauverordnung“ wurden erst zu Beginn der 1950er Jahre bundesweit abgeschafft.
Während des oben genannten Zeitraums unterrichteten in Borken zahlreiche ledige Lehrerinnen, von den SchülerInnen „Fräulein“ gerufen, im Volksmund meist als „Jüffer“ bezeichnet.
Ihren mehr oder weniger langen Verbleib vor Ort hat die Chronik der Borkener Volksschule festgehalten, ihre Namen und Daten spiegeln zugleich ein Stück Volksschulgeschichte wider.
Zu diesen Lehrerinnen gehörte auch Maria Stadtmann, von ihren Schülerinnen heimlich „Stadtmänneken“ genannt. Sie stammte aus Ostbevern, wo sie am 8. Dezember 1876 geboren wurde. Nach dem Besuch der örtlichen Volksschule wechselte sie 1892 als Sechzehnjährige zur Präparandieanstalt nach Münster; dort erhielt sie im Laufe von drei Jahren das Rüstzeug für das katholische Lehrerinnenseminar, das sich ebenfalls in Münster befand. Die erste Lehrerprüfung legte sie 1898 ab.
Ein halbes Jahr später trat Maria Stadtmann ihren Dienst an der damals zweizügigen Volksschule in Borkenwirthe an, wo bereits der Lehrer Bernhard Hueskamp unterrichtete. Hier erhielt sie ihre schulpraktische Ausbildung. Nach absolvierter zweiter Lehrerprüfung wurde sie im Herbst 1903 an die Volksschule in Borken versetzt, deren LehrerInnen- und SchülerInnenzahl erheblich höher war als in Borkenwirthe. Mehr als 40 Jahre lang unterrichtete sie dort. Den meisten noch lebenden Schülerinnen ist sie als besonders streng in Erinnerung geblieben.
Im Haus des Organisten, Chorleiters und Musikalienhändlers Josef Smets, Ecke Wilbecke/ Blumenstraße, fand sie als Mieterin eine Wohnung. So manches Mal werden beide zusammengesessen haben, um das anlässlich des Patronatsfestes Anfang Oktober 1929 erstmals gesungene Remigiuslied („Jubellieder heut‘ wir singen“) zu schaffen, der eine als Komponist und die andere als Verfasserin des Textes. (In zweiter Ehe heiratete der verwitwete Josef Smets 1937 Stadtmanns Nichte Hanna.)
Gut zehn Jahre vor ihrer Pensionierung erlebte Maria Stadtmann eine gravierende Veränderung der Borkener Schullandschaft. Die Volksschule in ihrer bisherigen Gestalt wurde aufgelöst und in zwei organisatorisch getrennte Systeme aufgeteilt: eine Volksschule für Jungen (Rektor Albin Leßmann, ab 1936 Rektor Heinrich Tinnefeld) und eine Volksschule für Mädchen (Rektorin Paula Schwartze).
Letztere war bis 1933 Leiterin der Höheren Mädchenschule (im Volksmund „Höhere Töchterschule“ genannt), die zeitgleich aufgelöst wurde und samt Lehrerinnen und Schülerinnen in die neu geschaffene Mädchen-Volksschule überging. Dort unterrichtete Maria Stadtmann bis zu ihrer Pensionierung im Frühjahr 1944.
Als „Schutzengel der Engelchen“ machte sie sich während ihrer Zeit in Borken besonders verdient, hieß es nach ihrem Tod in der Zeitung. Pünktlich zur Fronleichnams- und zur Großen Prozession standen „ihre Mädchen“ bereit, um das „Sanctissimum“ zu begleiten, bekleidet mit langen weißen Strümpfen und langärmeligen weißen Kommunionkleidern samt Kränzchen auf dem Kopf und einem Strauß weißer Blumen in der Hand. Auf die genannten Details legte sie penibelst Wert.
Auch beim Besuch von Bischof Clemens August von Galen Mitte Mai 1938 spielten die „Engelchen“ eine Rolle. Die damals übliche Prachtentfaltung anlässlich des Bischofsempfangs (Fahnen- und Girlandenschmuck, Reiterstaffel, Fahrradkonvoi und dergleichen) war erst möglich geworden durch einen Kompromiss der Pfarrgeistlichkeit mit den örtlichen Größen der NSDAP, die den Empfang untersagen wollten. Ihnen kam man mit der Zusicherung entgegen, einen ebenso prächtigen Empfang auch dem zwei Wochen später erwarteten Gauleiter Alfred Meyer zu bereiten.
Von niemand bemerkt, soll Maria Stadtmann auf eigene Weise dagegen „protestiert“ haben: „Ihre Engelchen“ waren zur Stelle, aber ohne Kränzchen auf dem Kopf.
Der mehrfache Bombenhagel im März 1945 zerstörte auch das Haus Smets an der Ecke Blumenstraße/ Wilbecke. Maria Stadtmanns Hab und Gut wurden ebenfalls vernichtet. Nach dem Krieg übersiedelte sie in ihren Heimatort Ostbevern (heute Kreis Warendorf), wo sie am 18. Februar 1948 verstarb.
Propst Josef Sievert und befreundete Kolleginnen gaben der Verstorbenen das letzte Geleit, wie die Westfälischen Nachrichten am 3. März 1948 in einem Nachruf berichteten.
Rudolf Koormann (2019)
Das Klassenfoto mit der Lehrer Maria Stadtmann (rechts) entstand frühestens 1903.
Foto: privat (aus BZ, 17.9.2005)
Das Luftbild entstand vor 1907 und zeigt das alte Kloster mit dem Schulgebäude rechts neben der Johanniskirche. Das rechte Verbindungsgebäude beherbergte damals das Bürgermeisteramt (Rathaus) und wurde im Volksmund „Schelle“ genannt.
Foto: Heimatverein Borken
Dieses Luftbild stammt von 1938 und zeigt die Gebäude der Volksschulen von Osten her.
Foto: Heimatverein Borken
Maria Stadtmann (vorn links) und ihre Kolleginnen Theresia Benölken, Maria Middendorf;
(zweite Reihe v. l.) Maria Leefken, NN, Maria Reichenbach, Josepha Tooten;
(dritte Reihe v. l.) Maria Schlauter, Agnes Preußen, Antonia Schmidt.