
Die seit dem Jahr 1020 bestehende Grafschaft Kleve, die 1417 zum Herzogtum erhoben wurde und 1614 in den Besitz der Kurfürsten von Brandenburg, später der Könige von Preußen kam, erstreckte sich links des Rheins und rechtsrheinisch bis zur Issel. Darüber hinaus hatten die Grafen, Herzöge, Kurfürsten oder Könige auch im Raum Borken Eigentum an Grund und Boden, d. h. Güter in unterschiedlicher Größe. Um sie bewirtschaften zu lassen, „verliehen“ sie als „Lehnsherren“ Haus, Hof und die dazu gehörigen Ländereien in den zumeist erblichen Besitz eines Berechtigten, der dadurch zum „Lehnsmann“ („Dienstmann“) wurde.
Das Lehen begründete zwischen Lehnsherr und Lehnsmann ein Verhältnis wechselseitiger Treue, die sich in militärischer und politischer Unterstützung ausdrücken sollte. Im Kriegsfall z. B. stellten die Lehnsmänner ihrem Lehnsherrn Pferde zur Verfügung oder leisteten einen geldwerten Ausgleich. Zugleich beinhaltete das Lehen ein ausgedehntes Nutzungsrecht an dem „verliehenen“ Gut, aber auch die Möglichkeit des „Heimfalls“; dabei fiel das Lehen an den Lehnsherrn zurück, wenn der Lehnsmann starb bzw. bei einem erblichen Lehen der Lehnsmann ohne Erben starb. Den Lehnsmännern jedoch gelang es nicht immer, das „verliehene“ Gut selbst zu bewirtschaften, weshalb sie es gegen Geldzahlungen, Naturalabgaben und Dienstleistungen an Pächter, meist Bauern, verpachteten.

Ausschnitt einer Karte des Herzogtums Kleve (1645), angefertigt von dem niederländischen Kartographen und Kupferstechers Joan Blaeu (1596-1673). In der linken Bildhäfte die Orte Cranenburg (Kranenburg), Cleve (Kleve), Emmerich und Rees. Die rechte Bildhälfte zeigt u. a. die (Bocholter) Aa mit Nebenflüssen sowie die Orte Ranstrup (Ramsdorf), Gemen, Boreken (Borken) und Bockholt (Bocholt) schließlich weiter nördlich das niederländische Breefoort (Breedevort). (Karte: Wikipedia)
Ein solches Gut, das an Lehnsmänner „verliehen“ und von Pächtern bewirtschaftet wurde, war „Everharding“ in Gemenwirthe, nördlich der (Bocholter) Aa gelegen, östlich der Gemarkungsgrenze mit der Bauerschaft Hoxfeld und westlich des Gutes Schulze Schierenberg, später Schulze Wülfing.
Um 1500 war das Gut schon geteilt in „Kleine Everharding“ und „Große Everharding“. Über die Zeit davor und danach geben zahlreiche Klevische Lehnbriefe im Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Auskunft. Über „Kleine Everharding“, seine Lehensträger und Pächter berichten auch Akten, die aus dem Gesamtarchiv von Landsberg-Velen stammen und im Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, liegen. Demnach wurde um 1700 der damalige Herr auf Pröbsting, Diederich Freiherr von Wylich, Empfänger des Lehens. Aus seiner Zeit sowie aus der seiner Nachkommen und Erben, zu denen die Familien von Morrien und von Grüter gehörten sowie Carl (von) Basse, der erste Landrat des Kreises Borken, sind zahlreiche Dokumente erhalten geblieben. Dagegen war „Große Everharding“ lange im Eigentum der Borkener Bürger(meister)familien Wienen und Arning; Archivmaterial ist darüber jedoch nur in geringem Umfang vorhanden.
Das Klevische Lehenswesen überhaupt und das Lehensverhältnis fanden 1798 ihr Ende. Damals besetzten die Franzosen das linke Rheinufer, und damit auch das Herzogtum Kleve, das schon preußisch gewesen war, aber vom Zeitpunkt der Besetzung an nicht mehr existierte. Soweit es die Lehngüter im Bereich des Fürstbistum Münster bzw. des Fürstentums Salm betraf, scheint alles beim Alten geblieben zu sein. Denn noch 1804 belehnte Friedrich Wilhelm III. als König von Preußen einen Nachfahren des oben genannten Herrn von Wylich mit einem Hof in Westenborken, unweit des Gutes Pröbsting gelegen (vgl. LAV NRW, Abt. Westfalen, Gesamtarchiv von Landsberg-Velen, Vermischte Urkunden Nr. 337).
Nachdem Napoleon wenig später den gesamten nordwestdeutschen Raum durch Annexion seinem Kaiserreich einverleibt hatte, hörte das Lehnswesen auch diesseits des Rheins bzw. der Issel auf zu bestehen. Im westlichen Münsterland, das 1814/ 1815 Teil der preußischen Provinz Westfalen geworden war, wurde der sich daraus ergebene Zustand 1825 per Gesetz bestätigt, allerdings nicht, ohne für entsprechende Entschädigungen zu sorgen. Das endgültige Aus jedoch, d. h. auch die Abschaffung dieser Entschädigungen, kam erst 1876 (vgl. Theuerkauf, Gerhard, Das Lehnswesen in Westfalen. In: Westfälische Forschungen, Bd. 17, Münster 1964, S. 14 ff.).
Seit der Ersterwähnung eines „Klevischen Lehens“ mit dem Namen „Everhardynck“ im Jahr 1376 vergingen Zeiten des Verleihens, Verpachtens, Verschuldens, Verpfändens, Verteilens, Verkaufens, Verweigerns und Verklagens. Dies betraf in erster Linie das sogenannte Gut „Kleine Everharding“, d. h. als dessen frühe Lehensträger u. a. Mitglieder der Familien de Korte und von Stockum oder Stockheim es als Lehen erhalten hatten.
Zu ihnen gehörte Alexander Ernst Matthias von Stockheim, dem der oben genannte Freiherr Diederich von Wylich zu Pröbsting 1600 Rtlr. „vorgeschossen“ hatte, wie es in einer Quelle heißt. Da der Schuldner die Summe aber nicht zurückzahlen konnte, verlor er das Lehen an den Geldgeber (vgl. Gesamtarchiv von Landsberg-Velen, Dep., Pröbsting – Akten, Nr. 11258). Dieser führte „Kleine Everharding“ zwar in „ruhigeres Fahrwasser“, konnte aber den Gesamtbestand des Gutes nicht sichern. Es teilte sich vielmehr auf in drei kleinere Pachtkotten, die noch heute bestehen, jedoch unter anderen Namen, und längst im Eigentum ihrer Bewohner sind. „Große Everharding“, das zunächst in der Hand von Borkener Bürgerfamilien verblieb, wurde 1701 zweigeteilt. Sein Name aber geriet wie auch der seines „kleineren Nachbarn“ im Laufe des späten 19. Jahrhunderts in Vergessenheit. Die Namen neuer Pächter bzw. Eigentümer setzten sich im Laufe der Zeit durch.

„Delineatio [Darstellung] und Carte von dem halben [Gut] Arnings Große Everharding“, 18. Jh. (Aus: Unsere Heimat, Jahrbuch des Kreises Borken 1978, S. 159. Das Original liegt im Heimatmuseum Ramsdorf.)
Nachdem Ludolphus Henricus Wienen, verh. mit Maria Catharina Ebelen, und Johan Henrich Arning als Ehemann der Anna Sophia Gertrud Wienen das Gut Große Everharding als Erbe ihres Vaters bzw. Schwiegervaters Arnold Wienen 1701 geteilt hatten, entstand die oben stehende Hofkarte, von der je-doch nur eine Hälfte erhalten geblieben ist. Auftraggeber war vermutlich Joh. Henr. Arning, damals Bürgermeister der Stadt Borken.
Aus den Archivbeständen lässt sich ablesen, wie das Verhältnis der Pächter zu ihren Grundherren und zu ihren Nachbarn jenseits der „Gutsgrenzen“ war. Kurz gesagt: nicht störungsfrei. Es gab immer wieder Streit, mit den einen wegen der Nicht-Erfüllung der Pachtbedingungen, mit den anderen wegen der Nicht-Einhaltung von Weidegrenzen oder der Nicht-Beachtung von Wegerechten.
Die drei Familien auf „Kleine Everharding“ lassen sich wie auch die Bewohner der zwei Kotten „Große Everharding“ namentlich erstmals im Jahr 1708 festmachen, als in Borken die Namen aller Personen aus Stadt und Kirchspiel aufgeschrieben wurden, die an Ostern desselben Jahres kommuniziert hatten („Kommunikantenliste“):
In „Kleine Everharding“ wohnten damals
1. Jobst Herman ter Voert und Gesken Schierenberg (1824 wurde der Hof als „Middste Junker“ verzeichnet, um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte er die Hausnr. 10.)
2. Henrich Kerckhoff und Mette Amans sowie Henrich Kerckhoff und Trine Schroers (1824 „Vornste Junker“, später Hausnr. 9)
3. Meiß Bußmans und Elisabeth Lammers (1824 „Achterste Junker“, später Hausnr. 11).
In „Große Everharding“ wohnten
1. Hermann Buss und Grete Warnsinck mit Tochter Hille (später Hausnr. 7)
2. Gert Ra(d)emacher und Johan Ra(d)emacher mit Trine Alberdinck (später Hausnr. 8)
Die Kirchenbücher von St. Remigius, die Pachtbücher des Hauses Pröbsting und die Personenstandsregister im Stadtarchiv Borken sind wichtige Quellen, um für jeden Hof und seine Bewohner eine eigene Generationenfolge aufzustellen, die auch den Wechsel von Pächtern erfasst. Die Eigenart der Schreiber vergangener Jahrhunderte jedoch, den „tatsächlichen“ Familiennamen dem Namen des gesamten Gutes, nämlich „Everharding“, unterzuordnen, erschwert eine durchgehend sichere Identifizierung und Zuordnung von Personen.
Während der 1920er Jahre begannen Archäologen und Heimatforscher, sich für „Everharding“ zu interessieren, jedoch nicht wegen seiner Geschichte als Klevisches Lehen oder landwirtschaftlich genutztes Gut. Anlass war vielmehr die vermeintliche Existenz einer „Burganlage“ mit dem Namen „Pausborg“, der in einer Sage eine Rolle spielt:
„An der Weseler Landstraße und an der Bocholter Straße lagen in alten Zeiten zwei Burgen, an der ersten Straße die Burg Dyckhausen, an der zweiten Straße die Burg Winkelhausen. Sie wurden von zwei Brüdern bewohnt, die sich in Not und Leid treu zur Seite standen.
Eines Tages erhoben die Herren der Pausborg in Gemenwirthe Ansprüche auf die Burg Winkelhausen. Da man sich über den rechtmäßigen Besitz friedlich nicht einigen konnte, zogen die feindlichen Truppen gegeneinander. In der Nähe des ‚Horaper Feldes‘ kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung, bei der die beiden Brüder und die Mehrzahl ihrer Kampfgefährten ums Leben kamen. Die Weiden, in denen das blutige Ringen stattfand, heißen noch heute ’Elendsweiden’. Sie liegen zwischen der früheren Bahnstrecke Borken-Bocholt und dem ’Horaper Feld’“.
Dass die beiden erstgenannten Burgen existiert haben, ist unwahrscheinlich, während es die „Pausborg“ vermutlich gegeben hat, zwar nicht als Burg mit Rittern, sondern als frühmittelalterliche Fliehburg. Deren Hauptteil habe auf dem östlich anstoßenden Acker gelegen, der früher dort aufstehende Wald sei aber 1930 gerodet worden, heißt es in der Schrift „Der Raum Borken in der Vor- und Frühzeit“. Mit der Einebnung des Geländes seien der zuvor noch sichtbare Turmhügel und seine Umfassungsgräben verschwunden, die eine Karte aus der Zeit um 1900 noch angedeutet habe.
Ergebnis der Suche war schließlich eine Rekonstruktionszeichnung, die ein weitläufiges Grabensystem mit einem Erdhügel in der Mitte zeigt. Allerletzte Reste dieser Fliehburg in Form von Gräben und Wällen liegen in einem Wäldchen („Jüncks Busch“) rechts der Straße „Steinrott“ in Gemenwirthe; gegenüber zweigt der Weg „Zum Flugplatz“ ab.

Lageplan der Pausborg, 1930, Daniels. In: Heselhaus, A., und Siepe, B.; Der Raum Borken in der Vor-und Frühzeit, hg. v. Kreis Borken, Borken 1972, S. 40
Die Fliehburg und ihr weitläufiges Umfeld waren vermutlich der Ursprung für das spätere Gut „Everharding“, das Eigentum der Grafen von Kleve wurde und von diesen als Lehen „verliehen“ wurde.
Die einstige Abhängigkeit von der adeligen Grundherrschaft („Junker“) lebte und lebt noch fort in Flurnamen wie „Junkers Kamp“ und „Junkers Busch“, dem „Junkersweg“, der heute „Zum Flugplatz“ heißt, und der „Junkersbrücke“ in unmittelbarer Nähe zur Kläranlage. „Junkershöfe“ nennt sich die Nachbarschaft, der sich die aus dem ehemaligen Gut „Everharding“ hervorgegangenen fünf Höfe zugehörig fühlen.
Rudolf Koormann (2025)




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